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Die erste bekannte Überlieferung und Verbreitung des traditionellen Hung-Gar-Stils außerhalb von Klostermauern erfolgte durch den Mönch Gee Sin Sim See, der im siebzehnten Jahrhundert als Abt im südlichen Shaolin-Kloster lebte. Das Kloster befand sich in der chinesischen Provinz Fujian und wurde vor einigen Jahrhunderten zerstört. Heutzutage erinnert lediglich eine Schrifttafel an diese historische Stätte, während der nördliche Shaolin-Tempel bis heute erhalten und bewohnt ist.



Christian in Peking (1996)



(Besuch bei Kung-Fu-Großmeister Lam Chun Fai in Hongkong im Juli 2004)

Im Juli 2004 bin ich jetzt also wieder einmal in Hongkong. Ausgerechnet im Juli, bei diesen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit, aber das bekommt mir ja eigentlich ganz gut. Und ich fühlte mich auch sehr wohl, stünde da diesmal nicht eine Aufgabe der besonderen Art an.

Sicherlich, ich habe mich sehr gut vorbereitet, körperlich und geistig. Außerdem übe ich die exotische Kunst des traditionellen Süd-Shaolin-Kung-Fu bereits seit über 15 Jahren. Doch das könnte sich bald als eine Seifenblase erweisen, denn es steht ein Treffen mit einem der erfahrensten und besten Kung-Fu-Großmeister der Welt an. Hätte es nicht wenigstens ein Seminar mit mehreren Teilnehmern sein können, wo man nicht alle Schwächen aufzudecken bräuchte, mußte es unbedingt ein Einzelbesuch sein? Nun ja, im schlimmsten Fall würde er meine Kunst abfällig bewerten und sich weigern, mir etwas Interessanteres beizubringen. Da erging es manchem Herausforderer eines Meisters im alten China anders.

Ein Blick auf die Ahnentafel dieses Kung-Fu-Stils läßt immerhin auf Besonderes hoffen: Großmeister Lam Chun Fai steht an bisher siebter und letzter Stelle. Der Lehrer seines Großmeister, ein gewisser Wong Fei Hung, ist in China ein Mythos, ein Volksheld, seine Lebensgeschichte eine Vorlage für zahlreiche Spielfilme, in denen z.B. auch Schauspieler Jet Li mitwirkte, den Lam Chun Fai auch persönlich kennt. Eine authentischere Übermittlung einer alten, exotischen Kampfkunst kann man sich kaum vorstellen, es ist fast wie eine kleine Reise in die chinesische Geschichte.

Mit der Doppelstock-Straßenbahn fahre ich in einen weniger touristischen Stadtteil, in die King’s Road auf Hongkong Island, um mich schließlich in einen kleinen Hauseingang eines zehnstöckigen Gebäudes hineinzuzwängen und mich mit dem wenig Vertrauen erweckenden Aufzug in den siebten Stock zu begeben. Es empfängt mich ein freundlich lächelnder, jugendlich wirkender Mann in seinem Zuhause, zwischen Computer, Fernseher, Kung-Fu-Waffen und einem Stapel Zeitschriften und Dokumenten. Ich kann es kaum glauben, daß ich hier bin.

Noch bevor ich ihm meinen Namen buchstabiere, fordert er mich auf, sein Alter zu schätzen, eine Prozedur, die ihm sichtlich Spaß bereitet. "I am 65", sagt er schließlich stolz, wohl wissend, daß er deutlich jünger wirkt.

Nach einem ersten halbstündigen Informationsaustausch über bisherige Erfahrungen und Kenntnisse bittet er mich, ihm etwas von meiner Kunst vorzuführen.

Ich entscheide mich für die von oben erwähntem Wong Fei Hung entwickelte Tiger-Kranich-Form, die ich bereits vor längerer Zeit gelernt habe und auch regelmäßig übe. Natürlich bemühe ich mich um eine besonders gelungene Vorführung. Und er scheint dies auch zu respektieren, denn sobald ich mich ihm auf ca. zwei Meter nähere, weicht er immer ein bißchen zurück, um meinen kreisenden, schlagenden und schwingenden Extremitäten zu entgehen, schließlich ist sein Wohnraum nicht besonders groß. Nach einigen Minuten ist die geistige und körperliche Hochanspannung vorbei.

Er wirkt zufrieden, sagt jedoch: "Your performance is different". "Habe ich etwas falsch gemacht?", frage ich ihn. "Nicht falsch, nur anders als ich es mache, jeder kann den Stil auf seine Weise interpretieren, ich respektiere das", entgegnet er eloquent. Aber da ich ja schon so lange Kung Fu übte, könne ich seine Technik in kürzester Zeit übernehmen.

Ich bin aber eigentlich unter anderem auch hier, um etwas von ihm zu lernen. Daher frage ich ihn, ob er es zeitlich einrichten könnte, mir in den nächsten Tagen etwas beizubringen. Die Gottesanbeterin-Form würde mich beispielsweise interessieren.

Er erklärt sich bereit, mich zu unterrichten, er hätte die nächsten Tage ohnehin nichts anderes zu tun, besteht aber darauf, mir erst einmal nichts Neues beizubringen, sondern an dem bereits Gelernten, z.B. der Tiger-Kranich-Form, zu feilen. Ich stimme zu, was bleibt mir auch anderes übrig ...

Mit meinen neu gekauften Kung-Fu-Schuhen kreuze ich schließlich an einem der folgenden Tage zur ersten Übungsstunde auf.

Doch bevor wir beginnen, bittet er mich um Hilfe bei einem Computerproblem, das ihn seit langem beschäftigt. Eine Minute später ist die Sache erledigt und er sagt: "Wenn es um Computer geht, bist Du der Meister". Jetzt zeigt er mir noch einige Kung-Fu-Zeitschriften, auf denen er auf dem Titelblatt zu sehen ist und führt mir eine DVD mit einigen Formen vor, bei denen er auch die Hauptrolle spielt.

Doch irgendwann schließlich beginnt die Übungsstunde. Wir zerlegen besagte Tiger-Kranich-Form in Teil-Sequenzen und er korrigiert einzelne Bewegungen mit der Erfahrung eines Großmeisters. "Spürst Du, wie Du Deine Kraft auf diese Stelle konzentrieren kannst, wenn Du die Hand ein bißchen anders hältst?", fragt er beispielsweise. Oder er zeigt mir, wie ich eine Bewegung schneller und effektiver ausführen kann.

Nach einer halben Stunde haben wir die gesamte Form auf Vordermann gebracht und ich kann sie ihm komplett vorführen, zunächst noch sehr vorsichtig aufgrund der doch zahlreichen Korrekturen, die ich erst einmal verdauen muß. Dann aber zeige ich ihm doch das Resultat der vergangen Jahre und lege sehr viel (vor allem innere) Kraft in die einzelnen Bewegungen. Selten zuvor habe ich soviel Energie beim Üben einer Form gespürt. Und tatsächlich sagt er, ein wenig nachdenklich und dann wohlwollend kopfnickend: "You have much power, muuuch power!". "Falls ich einmal länger in Hongkong wäre, könnten wir öfters zusammen üben", meint er. Das war doch einigermaßen erfreulich fürs erste Mal ...

Zu Beginn meines nächsten Besuches steht zunächst eine Wiederholung des Gelernten an. "Ich habe ein Problem mit der Schulter, der Arzt hat gesagt, daß ich nicht zu viel Kraft in meine Bewegungen legen darf", entschuldigt er sich bei mir. "Dann ist das heute meine Chance", rufe ich ihm zu. Lachend geht er auf die Toilette.

Da ich jetzt die Bewegungen einigermaßen so ausführen kann, wie er sich das vorstellt, verläuft die Stunde etwas weniger nervenaufreibend für mich. "Much better", sagt er. Und ich ergänze, daß ich mich mit den neu gelernten Bewegungen auch besser fühle, innerlich und äußerlich. Das freut auch ihn. Einige kleine Kampfübungen runden die Stunde ab.

Bei meinem letzten Besuch gehe ich nochmal aufs Ganze: Jetzt, da wir die vergangenen Tage so hervorragend gearbeitet haben, wie wäre es mit der Gottesanbeterin-Form. "Zu wenig Zeit", entgegnet er, ich solle ihm lieber noch eine andere Form zeigen, die ich bereits kann und die wir eventuell korrigieren könnten. Das mache ich dann auch und wieder sagt er: "Very different!". Das ist mir jetzt aber auch egal und wir einigen uns darauf, die Tiger-Kranich-Form nochmal etwas zu verfeinern und uns den Rest der Stunde mit chinesischer Philosophie, historischen Geschichten aus der Kung-Fu-Welt und seinen nahen Zukunftsplänen zu befassen.

Immerhin bin ich jetzt mit Foto in seiner Kartei eingetragen und im voraus zu seinen Seminaren eingeladen, die er irgendwann in Europa abhalten wird.

"Vielen Dank, Großmeister, für alles was Ihr mir beigebracht habt. Wenn ich wieder nach Hongkong komme, lasse ich es Euch wissen", verabschiede ich mich. Ein kurzer Händedruck und ein Blick in die Augen erspart den beiden im Jahr des Drachen geborenen weitere überflüssige Phrasen.



Lam Chun Fai und Christian während einer Übungssequenz in der Wohnung des Großmeisters (Hongkong, Juli 2004)